”Wie Falcon auf Alec traf”
So wanderte Falcon durch die Länder, zu allen Völkern um ihre Sprache, ihre Geschichten und Legenden zu erlernen.
Er sang vor Bauern und Sklaven ebenso wie vor Königen; allen gab er Rat und Weitsicht mit seinen Liedern.
Jahrhunderte vergingen, in denen der ewig junge Meisterbarde von allen erkannt und geschätzt wurde; oft verstrichen Jahrzehnte, bis Falcon wieder zu einem Volk kam; sah ihn jemand in seiner Jugend, wo waren es oftmals seine Enkel, die den Barden wiedertrafen.
Während all der Zeit, während seiner Wanderungen, erkannte Falcon, daß das Geschenk des Drachens auch eine Schattenseite hatte: Obwohl er sich immer wieder eine Gefährtin nahm, konnte er keine Nachkommen zeugen.
So suchte er während seiner Reisen immer wieder nach einem Kind, das ebenso wie er die Gabe der Stimme besaß und ihm nachfolgen konnte; doch er suchte erfolglos.
Ebenso sah Falcon, wie unterschiedlich sich doch die einzelnen Völker und Stämme entwickelt hatten; waren die Einen immer noch Nomaden, die mit Feuersteinwaffen jagten, so hatten doch andere Völker, so wie sein eigenes, schon eine höhere Kultur mit Ackerbau und Schmiedekunst.
Weit im Süden war er sogar einem Volk begegnet, das in Häusern aus Stein wohnte und die Geister verehrte, die die Nomadenstämme fürchteten.
Als er eines Tages wieder einmal in einem der großen Wälder rastete, an dessen Rändern einige Nomadenstämme lebten, fragte Falcon sich wieder einmal, wie es sein konnte, daß die Menschen diese Wesen aus den gleichen Gründen sowohl haßten als auch verehrten.
Plötzlich durchbrach ein furchtbares Gebrüll die Gedanken des Barden: ein Bär, aber etwas schien nicht zu stimmen; das Gebrüll, das sich wieder entfernte, klang wie das eines Wahnsinnigen.
Und nur Augenblicke später hörte Falcon Schreie; Schreie des Schmerzes und ... Todesschreie, gepaart mit dem wahnsinnigen Gebrüll des Bären.
Mit gezogenen Waffen eilte der Barde zu den leiser werdenden Lauten; als er schließlich eine Lichtung betrat, bot sich ihm ein Bild des Grauens:
Inmitten der Leichen eines kleinen Elfenstammes lag der Kadaver eines riesigen Bären, seine schaumverschmierten Fänge noch in den Leib eines Elfs vergraben.
Entsetzt sah Falcon die Tragödie, die sich hier abgespielt hatte: Ein tollwütiger Bär mußte die frische Beute dieses kleinen Stammes, ein Reh, gerochen haben; und durch seinen fiebernden Wahnsinn getrieben, hatte er die Elfen angegriffen; die wenigen Elfen hatten keinerlei Chance.
Selbst in seinen Todeszuckungen hatte das kranke Tier noch getötet.
Mitleid mit diesen tapferen, kleinen Wesen ergriff Falcon; einen nach dem anderen vergrub er die zierlichen Körper der Elfen.
Doch als er den blutigen Körper einer Elfin hochhob um ihn ebenfalls zu begraben, hörte er plötzlich ein leises Wimmern: Schwerverletzt und aus vielen Wunden blutend, lag dort ein schwach atmender Elfenjunge; vorsichtig hob Falcon den bewußtlosen Jungen hoch und trug ihn in eine der Baumhöhlen, in der noch das Licht einer Talglampe brannte, und legte ihn auf ein Felllager.
Der Gefahr durch Raubtiere gewahr, die sicherlich schon das Blut rochen, versorgte der Barde die Wunden des jungen Elfen nur notdürftig.
Sodann lief er wieder auf die Lichtung, um die letzten Elfen und den Kadaver des Bären zu begraben.
Als er damit fertig war, sah Falcon wieder nach den Verletzungen des Jungen, säuberte und verband sie.
Einzig der tote Leib der Elfin hatte den Jungen vor tödlichen Wunden bewahrt.
Während der nächsten Tage und Nächte wachte Falcon über dem fiebernden Elfen, versorgte seine Wunden und flößte ihm Wasser ein; er hielt ihn in den Armen und tröstete ihn, wenn ihn seine Fieberträume plagten.
Tiefe Gefühle überkamen Falcon in diesen Momenten, Gefühle, die er seit dem Tod seines Sohnes für niemanden mehr empfunden hatte.
Die Tage vergingen und langsam heilten die Wunden des jungen Elfen, das Fieber sank und er schlief ruhig.
Als Falcon schließlich eines Tages vom nahen Bach mit Wasser zurückkam, sah er, daß der junge Elf sich regte; so ging er zu ihm, setzte sich neben ihn und wartete.
Er sah, wie sich die Nasenflügel des Jungen weiteten ... und wie er erstarrte. Hastig öffnete der junge Elf seine Augen und wich entsetzt keuchend vor Falcon zurück. In dessen schreckgeweiteten Augen konnte der Barde lesen, was der Junge fürchtete: Den grausamen Tod durch Menschenhand.
So lächelte Falcon nur, begrüßte den Jungen in dessen eigener Sprache und stellte sich vor:
"Ich grüße dich junger Elf; ich heiße Falcon Drachentöter; ich bin sehr froh, daß du endlich aufgewacht bist."
Die Miene des Jungen spiegelte Unglauben, als er die Stirn runzelte und fragte:
"Woher kennst du meine Sprache ?"
"Ein Menschenvolk, das lange mit einem Stamm eurer Art in Frieden lebte und euch verehrt, lehrte mich diese Sprache." antwortete Falcon. "Ich habe sehr lange unter ihnen gelebt und viel von ihnen gelernt, bevor ich weiterzog."
"Weiterzog ? Was bist du für ein Mensch ? Du sprichst meine Sprache; du besitzt Waffen aber du bist ohne Haß; du hast meine Wunden versorgt anstatt mich zu verletzen; was bist du für ein Mensch ?"
Verwirrt wich der Junge zurück - und stöhnte auf, als dadurch seine Verletzungen wieder aufbrachen.
Falcon nahm einen der frischen Verbände und fing damit sorgsam das frische Blut des zitternden Jungen und erwiderte:
"Ich bin ein Barde, Junge."
"Ein Barde ? Was ist das ?"
"Es ist ein Wort der Menschen für einen Sänger und Geschichtenerzähler; denn das ist meine Aufgabe: Allen, die zuhören, die Lieder und Geschichten, die ich kenne, zu singen, ihnen Rat zu geben und Hoffnung."
Mißtrauisch verfolgte der junge Elf, wie Falcon seine Wunden versorgte und die Verbände wechselte.
"Aber warum bist du hier ? Und warum pflegst du mich ?"
Falcon hielt inne - und schloß seine Augen. Vollkommen verwirrt sah der Junge, wie aus Falcons geschlossenen Augen eine Träne rannte; als der Barde die Augen wieder öffnete, sprachen Schmerz und Mitleid aus ihnen.
"Ich rastete auf einer Lichtung in der Nähe, als ich das Brüllen des wahnsinnigen Bären hörte. Nur Augenblicke später mischten sich in das Brüllen des Bären die Schmerzens- und Todesschreie deines kleinen Stammes; ich zog meine Waffen und lief in die Richtung der Schreie - aber ich kam zu spät.
Das Untier hatte alle getötet, bevor es selber starb; außer dir hat keiner überlebt.
Alles was ich tun konnte, war, sie zu begraben."
Falcon sah dem jungen Elfen in die Augen, lächelte.
"Dabei fand ich dich; du warst schwer verletzt, einzig der tote Leib einer Elfin hat dich vor dem Tod bewahrt."
"Meine Mutter, ich erinnere mich. Sie hat sich über mich geworfen, als der Bär angriff - doch an mehr erinnere ich mich nicht mehr."
Tränen sammelten sich in den Augen des Jungen und liefen über seine Wangen.
"Du bist seltsam, Falcon. Nie habe ich einen Menschen wie dich getroffen."
"Du hättest sie alle nochmal sehen wollen, nicht wahr, Junge ?"
"Ja, vor allem meine Mutter. Sie hat ihr Leben für mich geopfert."
Falcon strich dem jungen Elf sanft über das Haar - eine Geste, die mehr sprach als alle Worte.
Ein sanftes Lächeln erhellte die Züge des Barden, als er leise sagte:
"Es gibt eine Möglichkeit, Kind. Das, was war, ist in meinem Herzen und meiner Seele bewahrt; und du sollst es nun hören."
Leise fing Falcon an zu singen; seine klare Stimme wob die Geschichte dieser Elfen, ihren letzten, tapferen Kampf gegen das Untier. Und als er zum Ende gelangte, erklang eine zweite Stimme, die den Ruhm der Verstorbenen weitersang; eine junge Stimme, die der älteren doch so ähnlich war.
Tränen des Glücks und der Freude rannen aus Falcons Augen; endlich, nach all dieser Zeit, fand er, wonach er gesucht hatte.
"Wie heißt du, mein Junge ?"
"Mein Stammesnahme ist Songbird; ich bekam ihn wegen meiner Stimme. Doch warum heißt du Drachentöter, wenn du Geschichtenerzähler bist ?"
Für einen Herzschlag überzog Schmerz Falcons Gesicht; doch dann lächelte er wieder.
"Das ist eine sehr lange Geschichte; das Lied meines Lebens und das meines Volkes."
Er nahm die Harfe auf, deren Saiten leise klangen, setzt sich neben Songvird und begann zu spielen; er sang ihm das Lied Goldschimmers, seinen Kampf mit dem Untier und dessen letztem Wunsch, den Falcon erfüllte hatte.
"So reise ich nun schon seit 600 Jahren durch die Länder und singe den Völkern. Ich gebe ihnen Hoffnung und Rat. Ich lehrte vielen jungen Barden meine Lieder; aber es war keiner unter ihnen, der würdig gewesen wäre, nach meinem Tod die Harfe des Drachen zu spielen. Doch nun habe ich, nach all dieser Zeit, jemanden gefunden: Dich, junger Songbird."
Völlig verblüfft sah der Junge den Barden an.
"Möchtest du ?"
"Du meinst, ich soll ..."
"Bei mir bleiben, ja. Ich möchte dich alles lehren, was ich weiß; ich möchte dich ausbilden, damit du mir einst nachfolgen kannst."
Verwundert sah Songbird Falcon an.
"Aber ... ich bin ein Elf !"
"Ich weiß."
Falcons Gesicht wurde ernst.
"Die Menschen dürfen nicht erkennen, daß du ein Elf bist; aber wir werden einen Weg finden."
Während seiner Genesung und der nachfolgenden Jahre lernte der junge Elf von Falcon all sein Wissen über Sprachen und Sitten, Geschichten und Legenden der Menschen. Im Gegenzug lehrte er Falcon die Lieder seines kleinen Volkes.
So wuchs Songbird während dieser Zeit zu einem jungen Mann heran; Falcon sah, daß die Größe des Elfen nun keine Rolle mehr spielte; Songbird war etwa so groß wie ein Menschenjüngling.
Jeder würde ihm glauben, wenn er den Elf als seinen Sohn ausgab; durch das Drachenblut so langlebig wie der Vater.
Falcon gab ihm auch einen Menschennamen: Alec.
Fortan rief der Barde den Elfen nur noch mit diesem Namen, damit der Elf sich an den ungewöhnlichen Klang gewöhnte.
Alecs spitze Ohren konnte man durch ein Stirnband und die Haare verstecken, seine Augen und die zierliche Gestalt mochten von dem Drachenblut kommen.
Doch so sehr Falcon auch überlegte, für seine vierfingrigen Hände fiel im keine Lösung ein.
Aber auch Alec hatte nachgedacht, und so sprach er den Barden eines Tages darauf an:
"Falcon, ich weiß, was wir tun; du verletzt mir mit deinem Dolch die Handkanten, so als ob man mir die fünften Finger abgeschnitten hätte; und dann versiegelst du die Wunden mit Feuer."
"Was ?! Aber wieso sollte ich so etwas Grausames tun ?"
Alec lächelte.
"Sie es so: Denen, die meine Art hassen, sagen wir, daß dies Elfen getan hätten, damit ich ihnen ähnlich sei; denen, die die Elfen verehren, sagen wir, daß das die Elfenhasser getan hätten, aus demselben Grund. Beide Seiten werden die Geschichte glauben und dadurch nicht mehr so wachsam sein."
Falcon sah den ernsten Jüngling an und seufzte.
"Also gut. Aber du weißt, daß ich das niemals tun würde, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe."
"Ich weiß. Du bist ein Mensch mit einem guten Herzen."
Schweren Herzens tat der Barde, was Alec vorgeschlagen hatte. Tränen sammelten sich in Falcons Augen, als er sah, wie der Elf tapfer die Schmerzen ertrug.
Die Wunden heilten ab, und die Narben sahen wirklich so aus, wie Alec es sich gedacht hatte.
Doch jedesmal, wenn Falcon die Hände des jungen Elfen beim Harfespiel führte und die Narben sah, verdunkelte Trauer sein Herz.
Alec spürte dies und sprach ihn schließlich darauf an.
"Falcon; du bist wie ein Vater für mich; ich spüre, daß dich etwas bedrückt; sage es mir."
Falcon blickte den Elfen an; er sah in dessen entschlossenen Augen, daß er antworten mußte.
"Es ist ... was ich getan habe. Niemals zuvor habe ich jemanden absichtlich verletzt; es spielt keine Rolle, ob es notwendig war oder nicht; allein, daß ich es getan habe, vor allem dir, mein Junge ... es ist ... grausam."
Alec sah, wie sehr der Barde litt; er seufzte, lächelte sanft, nahm Falcon bei den Schultern und sprach leise in der Elfensprache:
"Ich möchte dir etwas erzählen; wir Elfen haben die Fähigkeit, ohne Worte zu kommunizieren; Gedanken, Gefühle und Bilder, die von Seele zu Seele übertragen werden; wir nennen das Senden."
Der Barde schwieg; er spürte, wie schwer Alec das Reden fiel.
"Es ist eine Sprache ohne Lüge, denn zwischen Seelen kann es nur die Wahrheit geben. Um dabei unser Innerstes, unser Ich zu schützen, erhalten wir einen geheimen Namen, der das Ich des jeweiligen Trägers ist. In diesem Seelennamen ist sehr viel Macht; nur die Eltern wissen ihn, der Gefährte, wenn ein Elf und eine Elfin sich erkennen; und manchmal auch jemand, der einem näher ist, als ein Bruder oder eine Schwester."
Alec schwieg lange, bevor er weitersprach und Falcon direkt in die Augen sah:
"Mein Vater; mache deine Gedanken leer und fühle."
Verwirrt tat Falcon, was sein Ziehsohn verlangte. Er leerte seine Gedanken und sah Alec weiter in die Augen.
Und plötzlich geschah es:
Erst leise, dann lauter und immer deutlicher, hörte Falcon in seiner Seele einen Namen: Elay ... und plötzlich wußte er, daß Alec ihn
wie einen Vater liebte; daß er alles für ihn tun würde. All das, was Alec war, lag in diesem kurzen Laut.
Und er wußte auch, daß dies das größte Geschenk war, das er jemals erhalten hatte.
Tränen der Freude und des Glücks wuschen Falcons Schmerz beiseite, als er den Elfen umarmte.
"Elay ... ich werde dein Geschenk in Ehren halten; niemals soll ein anderer davon erfahren."
Während der nachfolgenden Zeit lernte Falcon, Alecs Botschaften zu empfangen, und ihm mit Gefühlen oder Bildern schwach zu antworten.
Und schon bald zog er mit Alec weiter zu den Völkern der Menschen.
Wie sie es gehofft hatten, schöpften sie keinen Verdacht. Sie kannten und vertrauten Falcon; für sie war Alec sein Sohn, und selbst die letzten Zweifel zerstreuten sich, wenn sie den jungen Elfen singen hörten.
Auch des Elfen bleibende Jugend akzeptierten sie; denn Falcon war nach all der Zeit durch das Drachenblut noch immer jung; also blieb es auch sein Sohn.
So zogen sie über den Kontinent, sangen den Völkern und lernten von ihnen neue Geschichten und Lieder.