”Sternenstaub” 01
Leise fluchend, wühlte Paul in einem Karton herum, hier irgendwo musste er doch noch Zigaretten haben. Eine ganze Stange müsste da sein, da war er sich ganz sicher. "Verdammt ! Ach da." Er hatte die Stange gefunden und fetzte das Papier auf. Er hasste es, wenn er mitten im Schaffen war und dann keine Kippen da hatte. Auch das Päckchen wurde aufgerissen und schon brannte eine der Fluppen. Paul nahm einen tiefen Zug und stöhnte wohlig, jetzt war er viel ruhiger und ging wieder an den Tonblock, dem er gerade eine Form verpasste, die man als Kunst bezeichnen konnte, auch wenn sie sehr eigenwillig war. Paul hatte sich in den letzten Wochen im Atelier vergraben, arbeitete, trank Wein und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er wollte den Tod seines Vaters verarbeiten, vergessen konnte er nicht, aber er konnte versuchen, es zu verarbeiten. Seither hatte er ein Kunstwerk nach dem anderen geschaffen, er war vielseitig, konnte auch malen, aber er hatte seit Henris Tod nicht mehr daran gedacht, einen Pinsel in die Hand zu nehmen. Mit der Fernbedienung drehte er die Musik ein wenig lauter und tauchte seine Hände in Wasser, um weiter an dem Ton zu arbeiten. Heute arbeitete er mit Ton, er bearbeitete aber auch Holz, Marmor und andere Materialien.
Von all dem hatte aber ein gewisser junger Florentiner keine Ahnung, als er aus dem Taxi stieg und seine Koffer entgegennahm. Es waren zwei Monate vergangen, seit er von hier fortging ... doch es war für ihn einerseits so kurz wie ein Tag und andererseits so lang wie ein Leben gewesen. Mit einem Lächeln auf den Lippen zahlte Gianni den Fahrer und nahm die Koffer auf, ging zu der Treppe, die nach oben führte und trug sie langsam und so leise wie möglich hinauf. Erst dann raffte er sich auf und hob die Hand, klingelte sacht und wartete aufgeregt darauf, daß ihm Henri öffnete und ihn begrüßte.
Als es klingelte, wurde Paul aus seiner Konzentration gerissen und stellte die Musik leiser. Er hatte keinen Schimmer, wer da klingelte, seine Bekannten wussten, daß er im Moment seine Ruhe haben wollte. Er stand von seinem Hocker auf, griff sich einen Lappen und wischte sich im Gehen die Hände sauber. Den Lappen steckte er kurz vor der Tür in seine Hosentasche und öffnete sie. "Was ist ?" Dann aber fiel ihm fast die Zigarette aus dem Mund. Er erkannte Gianni, er war das Sternenkind, die Muse seines Vaters.
Der starrte nur völlig perblex auf den jungen Mann, der in der Tür stand. Ein wenig größer und ein klein wenig breiter, doch nicht viel ... sichtlich ein Künstler, der mit Ton arbeitete, die ein wenig eigenwillig gefärbten Haare in einen lockeren Zopf geflochten. Die Ansätze der Haare waren in einer Art Lila gehalten, während das Haupthaar in Magenta leuchtete und durch die leicht blonden Spitzen nur noch betont wurde. Dazu außergewöhnliche Augen, die wie Honig schimmerten und einen förmlich in den Bann zogen. Doch das, was Gianni am Meisten verblüffte, war die Ähnlichkeit, die dieser junge Mann mit seinem Liebsten hatte und so konnte er ein leises, fast schon ängstliches "Henri ?" nicht zurückhalten.
Ihm antwortete nur ein leises "Shit." und Paul strich sich kurz durch die Haare. "Ich bin Paul." Er sah die zwei Koffer und überlegte einen Moment. Scheinbar wusste Gianni noch nicht, was passiert war. "Komm erstmal rein."
"Paul ?" Man konnte die Stimme des jungen Italieners fast nicht hören, doch nach einer kurzen Schrecksekunde gehorchte er und nahm die Koffer auf, trat ein und stellte sie unsicher in den Gang. "Du bist Henris Sohn, nicht wahr ? Seit wann bist du denn hier ? Und ist Henri auch hier ? Ich weiß, daß ich etwas überraschend komme, ich hätte mich vielleicht doch anmelden sollen." Er wußte nicht, ob er ungelegen kam ... er hatte sich sein Wiederkommen ein wenig anders vorgestellt und gewiß nicht erwartet, den Sohn seines Liebsten so plötzlich kennenzulernen.
Paul brauchte einen Moment, er starrte Gianni eine Zeitlang an, dann entschloss er sich, es ihm zu sagen. Besser sofort, warum sollte er es noch herauszögern. "Ich bin seit sechs Wochen hier, seit Vater von uns gegangen ist." Seine Stimme brach fast, er selber hatte das Geschehene noch lange nicht überwunden und jetzt kam Gianni und wusste von nichts.
Es dauerte einen Moment, bis der Schwarzhaarige verstanden hatte, was die Worte bedeuteten ... doch als er es verstand, keuchte er leise auf und schloß die Augen, als er sich an der Wand abstützte und versuchte, den heftigen Schmerz zu verkraften, der sein Herz zusammenzog. Henri war ... tot. Seit sechs Wochen scheinbar schon - er starb, als der junge Florentiner noch frohen Mutes und voller Pläne war, wie er seine Zukunft hier bei seinem Liebsten erhoffte. Diese Nachricht traf ihn wie ein Schlag ... und nun war ihm auch klar, weshalb er niemals seine Kopie des Bildes erhalten hatte.
"Hey, klapp jetzt nicht zusammen." Paul stützte den Schwarzhaarigen sofort. Er hatte nicht erwartet, daß es ihn so treffen würde, aber es zeigte ihm, daß Gianni seinen Vater wirklich geliebt hatte. "Komm und setz dich erstmal." Er selber hatte Mühe, daß seine Gefühle ihn nicht wieder überrollten und er führte Gianni zum Sofa.
Schwer schluckend, nickte Gianni und erschauerte kurz, ehe er sich dem starken Arm des Anderen anvertraute und ihm zum Sofa folgte. Erst, als er saß, konnte der junge Silberschmied sich nicht mehr halten und vergrub das Gesicht in den Händen, während er von Weinkrämpfen geschüttelt wurde und versuchte, alles zu begreifen. Es war ihm, als hätte man ihm förmlich den Boden unter den Füßen weggezogen und sein Innerstes zerrissen – erst nach einigen Momenten gelang es ihm, sich ein wenig zu fangen und er sah zu Paul, dem sein eigener Schmerz ebenso deutlich anzusehen war. "Bitte ... bitte verzeih, ich ... bitte verzeih mir."
"Er hat dich sehr geliebt ... und du ihn, das merkt man. Du kannst ruhig um ihn trauern." Paul hatte Verständnis dafür, aber er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Daher nahm er die angebrochene Flasche Wein vom Tisch und goss etwas in das benutzte Glas, um den Wein dann herunterzustürzen. Wieviel er in den sechs Wochen getrunken hatte wusste er nicht, aber es war eine ganze Menge gewesen. "Vater ist eingeschlafen. Er hat im Schlaf eine Art Schlaganfall bekommen, weil sich eine Thrombose in seinem Bein gebildet hat und die hatte sich gelöst ... ich wünsche den Ärzten die Hölle an den Hals !" Henri war regelmäßig untersucht worden, aber die Thrombose hatten sie übersehen. Paul sah Henri noch immer vor sich, scheinbar schlafend im Bett. Aber er war tot und genau das war Pauls Angst gewesen. Seit dem Treppensturz hatte Paul Angst gehabt, seinen Vater wieder verletzt oder schlimmer aufzufinden, daher war er jeden Tag zu ihm gekommen oder hatte angerufen.
Schwer schluckend, verdaute Gianni diese Nachricht ... ein wenig machte auch er sich Vorwürfe, da er Henri nicht besser dazu motiviert hatte, zum Arzt zu gehen, auch wenn es jetzt nicht recht viel nutzte. "Hast du vielleicht auch einen Schluck für mich ? Bitte ?" Es war ihm peinlich, Paul darum zu bitten und so senkte Gianni den Kopf, während eine leichte Röte seine tränenüberströmten Wangen verdunkelte. Eigentlich war es nicht die Art des Schwarzhaarigen, zu trinken ... doch auf diese schreckliche Nachricht brauchte er ein wenig und der Rotwein schien genau das Richtige zu sein.
So hatte es bei Paul auch angefangen und seitdem trank er ziemlich viel, vielleicht mehr, als ihm guttat. "Sicher, Moment." Er ging zu der Vitrine und nahm ein Glas raus, das er dann auf den Tisch stellte und füllte. Danach blieb er immer noch stehen und drückte seine Zigarette in einem der Aschenbecher aus. Das aber auch nur, um sich gleich eine neue anzuzünden. "Vater hat viel von dir erzählt, aber ich hätte nicht gedacht, daß du wirklich wiederkommst."
Die Worte ließen Gianni sichtlich schwer schlucken und er schloß einen Moment die Augen, ehe er ein wenig Wein trank und dann auf das Glas in seinen Händen blickte. "Das hat Henri - so wie es aussieht - auch nicht getan ... er meinte immer, ich sollte mir in Italien einen jüngeren Liebhaber suchen, weißt du ? Er mochte mich sehr, das fühlte ich ... aber ... es war dumm von mir zu glauben, daß ich hier ... mit ihm ... oder ? Dio mio, ich ... es tut mir so leid, Paul. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte er mehr Zeit für dich gehabt und vielleicht wäre er dann noch am Leben."
"Was redest du denn für einen Schwachsinn ?" Pauls Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. "Vater hat dich geliebt, er wollte aber nur das Beste für dich. Und als du da warst, da war ich nicht da, ich hatte gar nicht die Möglichkeit, Zeit mit ihm zu verbringen." Er gab sich Mühe, nicht sauer zu werden, das Ganze überforderte ihn fast. "Und was jetzt ... hast du ein Hotel ?"
Bei dem Ausbruch erschrak Gianni sichtbar und zuckte ein wenig zurück ... auch wenn er es sehr gut verstehen konnte. "Nein ... ich bin dumm, nicht wahr ? Ich kam sofort hierher, da ich annahm, daß ich hierbleiben könnte. Ich fürchte, ich werde mir eine Wohnung suchen müssen, aber ich danke dir, daß du mir gesagt hast, was passierte. Es tut mir leid, daß ich dich belästigt habe, Paul." Während er sprach, stand der junge Italiener auf und stellte das Glas zur Seite, während ein leichtes, wehmütiges Lächeln um seine Lippen spielte.
"Du kannst erstmal ins Gästezimmer. Du konntest ja nicht wissen, was passiert ist." Paul hätte es ihm schreiben sollen, die Adresse Giannis stand im Adressbuch seines Vaters. "Dann musst du dein Geld nicht für ein Hotel rauswerfen und kannst in Ruhe ne Wohnung suchen." Er bot es an, weil er wusste, wieviel Gianni seinem Vater bedeutet hatte und er würde wohl vom Himmel herabsteigen und ihm den Hals umdrehen, wenn er ihn so einfach wegschickte.
Ein wenig verdutzt blickte dieser ihn an, da er dieses Angebot definitiv nicht erwartet hätte. "Wenn ich das dürfte ? Ich danke dir, Paul, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll." Mit den Worten kam er näher und umarmte ihn kurz, hauchte ihm einen leichten Kuß auf die Wange und trat wieder zurück, um in den Gang zurückzugehen und die Koffer aufzunehmen. Man sah ihm nur zu gut an, wie erleichtert er war – den Schmerz in sich hatte er ein wenig zurückgekämpft, denn später war ein besser Zeitpunkt, um zu trauern.
Die italienische Dankbarkeit überraschte Paul ein wenig, er ließ es geschehen und blickte Gianni kurz nach, bevor er sich die Weinflasche nahm und zurück ins Atelier ging, um weiter an dem Ton zu arbeiten. Er ahnte, was sein Vater so interessant an Gianni fand, er war unschuldig und naiv, dazu kam eine sehr sanfte Natur.
In der Zwischenzeit stellte der junge Italiener die Koffer in das Gästezimmer und seufzte leise, als er sich daran erinnerte, wie er schon einmal hier geschlafen hatte. Alles hier barg bittersüße Erinnerungen an die Zeit, die er hier mit Henri verbracht hatte und er seufzte erneut, als er sich auf das Bett setzte und das Gesicht in seinen Händen barg. Erst hier ließ er es zu, daß ihn das alles wirklich traf und schluchzte leise auf, ließ sich auf das Bett sinken und weinte leise in seinem Schmerz.
Paul verarbeitete seine Trauer anders, er hatte eine frische Zigarette im Mund und formte den Ton in die Form, die er haben wollte. Seine Gedanken waren aber irgendwie bei Gianni, die Musik war aus und er konnte hin und wieder, wenn er still war, das Schluchzen des Schwarzhaarigen hören. ‚Ja, weine es dir von der Seele ... du kannst wenigstens.' Er selber hatte es nicht geschafft zu weinen, er konnte es einfach nicht, obwohl es ihm wahrscheinlich eine große Hilfe wäre.
Es dauerte auch noch eine geraume Weile, bis es wieder still im Gästezimmer wurde. Gianni hatte sich inzwischen in den Schlaf geweint, der zum Glück traumlos blieb ... auch wenn sein Körper hin und wieder noch von einem leichten, fast unhörbaren Schluchzen durchrieselt wurde. Er war schon durch die Herreise erschöpft gewesen, doch die Nachricht von Henris Tod hatte diese Erschöpfung noch um ein vieles verstärkt und ihn schließlich einschlafen lassen.
Nur Paul war noch wach und arbeitete weiter. Als es so still wurde, hörte er aber auf und ging kurz zum Gästezimmer, um nach Gianni zu sehen. Wie erwartet, hatte Gianni sich in den Schlaf geweint. Paul betrat das Zimmer und musterte ihn etwas ausführlicher. Auf dem hellen Gesicht waren die Tränenspuren deutlich zu sehen und auch das Kissen war tränenfeucht geworden. Paul zog sich dann aber leise zurück und ging zu seinem Zimmer. Er blieb aber kurz bei dem Zimmer seines Vaters stehen und sah hinein. Er hatte es bisher noch nicht übers Herz gebracht, das Zimmer zu bewohnen, oder es auszuräumen ... es war fast so, wie Henri es verlassen hatte, nur das Bett war gemacht und frisch bezogen. Sein Gehstock stand neben dem Bett und so wirkte das Zimmer sehr bedrückend und verlassen. Weil alles so war wie es war, verließ Paul das Zimmer nun wieder, er schloss die Tür und verschwand dann in sein eigenes Zimmer, um sich schlafen zu legen.
Gianni wachte erst mitten in der Nacht wieder auf und erschrak kurz, als er sich in dem dunklen Zimmer wiederfand ... doch dann fiel ihm wieder alles ein und er schluckte, ehe er langsam aufstand und zögernd aus dem Zimmer trat. Es war zwar kein Licht an, doch die Beleuchtung durch die Fenster genügte, daß er den wohlbekannten Weg in das Bad fand, um sich dort zu erleichtern und dann kurz herabzuwaschen. Ein wenig des kühlenden Wassers spritzte er sich auch in das Gesicht, um seine durch das Weinen leicht angeschwollenen Augen zu kühlen, ehe er leise aufseufzte und die Augen schloß. Wie oft war er schon mit Henri hier gewesen und hatte dessen Zärtlichkeiten genossen, seine Liebe und seinen Körper ... die Erinnerungen schmerzten, doch sie ließen auch ein sanftes Lächeln auf seinen Zügen erwachen und gaben ihm die Kraft, aus dem Bad zu gehen und in dem Atelier stehenzubleiben, um es zu betrachten.
In dem großen Raum hatte sich nicht viel verändert. Paul hatte zwar die Gemälde seines Vaters unten in die Ausstellung hängen lassen, aber die Staffeleien standen noch immer im Atelier. Und er hatte sich einen Platz für seine Arbeit geschaffen. Auf einem Tischlein stand die in ein feuchtes Tuch gewickelte Figur aus Ton, an der er noch weiterarbeitete, und hier und da fertige Statuen aus Marmor.
Und genau diese Statuen weckten die Aufmerksamkeit Giannis und er ging zu ihnen, hob die Hände und berührte die kühle, doch angenehm glatte Schönheit des Marmors. "Dio mio ... sie sind herrlich." Ohne zu bemerken, daß er die Gedanken aussprach, betrachtete der junge Italiener weiterhin die schönen Statuen mit den Fingerspitzen, genoß dieses Gefühl und die Ruhe, die ihm diese herrlichen Kunstgegenstände ermöglichte.
Statuen, die Paul in seiner Trauer gemacht hatte, er hatte sich in seine Arbeit gestürzt und Tag und Nacht gearbeitet. In einer Ecke stand noch eine weitere, unfertige Marmorstatue, die aber mit einem Tuch bedeckt war.
Und genau diese Statue bemerkte nun auch Gianni und ging auf sie zu, hob das Tuch hoch und stockte. Selbst im eher spärlichen Licht der Straßenlaternen konnte er das noch unfertige Gesicht Henris entdecken, das den Körper eines herrlichen Engels zierte. Ohne, daß er es bemerkte, zog Gianni das Tuch völlig herab und lächelte, als er die Finger der Rechten über das so geliebte Gesicht streichen ließ und an das dachte, das sie geteilt hatten.
Das wurde von Paul beobachtet. Er war wieder einmal im Schlaf hochgeschreckt und hatte doch noch arbeiten wollen, weil er nicht wieder einschlafen konnte. "Der Engel ist für sein Grab. Der Grabstein, den er hat, wird ihm nicht gerecht." Das Grab lag sehr einzeln und hatte einen wirklich schönen Platz unter einer Trauerweide. Dort würde der Engel dann seinen Platz finden. Paul hatte den Platz ausgesucht, er war ein wenig abgeschieden, aber so konnte man Henri ganz in Ruhe besuchen und Paul war überzeugt, dass sein Vater diesen Platz auch gemocht hätte.
Die Stimme Pauls ließ Gianni sichtlich erschrecken, weil er nicht damit gerechnet hatte, daß dieser noch auf war. "Er sieht wundervoll aus, auch wenn er noch nicht fertig ist. Und ich denke auch, daß er ihm besser als ein Grabstein gerecht wird. Er war mit ganzer Seele ein Künstler und so wie es aussieht, hat er dir dieses außergewöhnliche Talent weitervererbt, Paul. Selbst wenn ich wollte, ich könnte niemals an euch heranreichen. Und ich denke ... dies sollte jetzt dir gehören." Mit den Worten faßte Gianni unter seinen Kragen und zog eine feine Silberkette über den Kopf, nahm die Hand des Anderen und ließ sanft die Kette mit dem Anhänger daran hineinfallen.
Paul blickte in seine Hand und hob sie hoch, um besser sehen zu können. Das wenige Licht genügte ihm, um zu erkennen, dass es eine silberne Kamee mit dem Abbild seines Vaters war. Sie war sehr fein gearbeitet und zeugte von der Geschicklichkeit des Italieners. "Das ... das kann ich nicht annehmen. Die Kamee ist viel zu wertvoll." Sie war zwar nur aus Silber, aber die feine Arbeit und die Bedeutung, die sie hatte, machten sie zu einem unbezahlbaren Schatz.
Leise schmunzelnd, schüttelte Gianni nur den Kopf und schloß mit seinen Händen die Finger des Anderen um die Kette, blickte zu ihm hoch und lächelte schließlich. "Nein, Paul. Ich hätte sie Henri gegeben und es ist nur richtig, daß nun du sie bekommst. Bitte, Paul." Es war ihm ernst, auch wenn er lächelte ... er rechnete nicht nach materiellen Werten und wollte, daß der Andere sie bekam.
Es war für Paul auch nicht unbedingt der materielle Wert, es war ihm zu wertvoll, weil es Gianni scheinbar auch viel bedeutet hatte. Aber weil Gianni so bestimmend war, nickte Paul und nahm das Geschenk an. "Danke ... und noch was, du bist auch ein Künstler, stell dein Licht nicht so unter den Scheffel. Die Kamee ist ein Kunstwerk." Das war ihm sehr ernst und er behielt die Kette erstmal in seiner Hand. Tragen würde er sie erstmal nicht, er wusste auch nicht, ob er sie überhaupt tragen wollte.
"Ich bin nur ein einfacher Silberschmied, Paul ... ich könnte niemals eine Statue oder ein Bild aus dem Stehgreif erschaffen, ich brauchte auch für die Kamee Fotos von Henri." Die Stimme des jungen Italieners wankte ein klein wenig, denn er fühlte noch immer die Hand des Anderen in der Seinen. Es war ähnlich wie bei Henri und ließ ihn leicht erschauern ... doch er brachte es nicht fertig, seine Hände zu lösen, da der Kontakt ihm sichtlich guttat.
Nur Paul löste langsam seine Hände und trat einen Schritt zurück. "Ich arbeite hin und wieder auch nach Fotos ... du solltest wirklich mehr Selbstbewusstsein bekommen." Daran fehlte es Gianni scheinbar wirklich ein wenig.
"Das sagte Henri auch immer - doch ich bin bescheiden und denke, ich werde das niemals ablegen." Es war Gianni ein wenig peinlich, daß er diese Berührung so lange aufrechterhalten hatte ... gut, daß es hier im Atelier noch immer dunkel genug war, daß man die Röte in seinem Gesicht nicht sehen konnte, denn sonst wäre er vor Scham vergangen. "Es tut mir leid, daß ich dich geweckt habe, Paul ... ich werde dich nicht mehr stören."
"Das hast du nicht, ich bin von alleine aufgewacht und hab dich dann erst gehört." Paul ging zu einem Tischlein und nahm sich dort eine Zigarette. Kurz flackerte Licht auf, als er sie anzündete, und dann war nur die kleine Glut der Zigarette zu sehen. "Du solltest wieder schlafen gehen, deine Reise war sicher anstrengend."
Erst jetzt fiel Gianni auf, daß hier überall Aschenbecher mit Kippen herumstanden und er schmunzelte wieder, als er kurz den Kopf schüttelte. "Eigentlich nicht ... um ehrlich zu sein, es war für mich eine große Erleichterung, Florenz endlich verlassen zu können. Schon ehe ich deinen Vater kennenlernte, war es für mich erdrückend ... er hat mir nur einen Grund gegeben, meine Entscheidung schneller zu fällen. Deshalb habe ich auch die beiden großen Koffer dabei, ich dachte, ich könnte vielleicht hierbleiben und arbeiten. Danke, daß ich hier übernachten darf, Paul." Noch während er sprach, nahm Gianni, ohne es zu bemerken, die vollen Aschenbecher auf und leerte sie in den kleinen Müllsack an der Seite, stellte sie wieder zurück und blinzelte kurz, als Paul das Licht anschaltete.
Auch Paul war kurz geblendet, aber was sollten sie weiter im Dunkeln herumstehen ? Scheinbar waren sie Beide nicht mehr so müde. "Ich denke, Papa wäre vom Himmel herabgestiegen und hätte mir eigenhändig den Hals umgedreht, wenn ich dich weggeschickt hätte. Du kannst hierbleiben, bis du was Eigenes hast. Hast du überhaupt genug Geld für ne Wohnung ? Du hast ja noch keinen Job oder eigenen Laden und ne Werkstatt ist auch nicht billig." Das interessierte ihn ja schon ein wenig. Gianni lief nämlich ziemlich, im wahrsten Sinne, blauäugig durch die Gegend.
Leise seufzend, neigte dieser kurz den Blick ... dann kam er wieder zu Paul und stellte den geleerten Aschenbecher neben ihn, überlegte und antwortete ihm schließlich. "Ich habe ein wenig eigenes Geld, mit dem ich mir den Grundstock kaufen möchte, den ich zum Arbeiten brauche. Ich dachte, ich könnte zumindest eine Weile hier wohnen, bis ich einen Arbeitsplatz habe ... ziemlich blauäugig, nicht wahr ? Ich wußte ja nicht einmal, ob Henri eine feste Beziehung gewollt hätte, ich war nur so verliebt und dachte ... Danke, daß ich wenigstens ein wenig hier wohnen kann, so habe ich zumindest diese Sorge weniger."
"Ja, blauäugig ... und so verliebt, daß du dachtest, daß ihr für immer zusammenbleibt ?" Paul hob fragend eine Braue, aber er wusste die Antwort schon längst. "Und ich hab hier genug Platz, daß du hier erstmal wohnst, ist kein Problem." Seine Kippe hatte er schon wieder fertig und drückte sie in den leeren Ascher. "Störe mich nur nicht bei der Arbeit."
Die erste Frage ließ Gianni wieder leise aufseufzen, da es haargenau der Wahrheit entsprach ... doch bei den letzten Worten nickte er und lächelte verlegen, während er sich seine Haare in einen Nackenzopf band. "Natürlich nicht, Paul ... ich weiß, wie wichtig es ist, sich ungestört und in Ruhe auf seine Arbeit zu konzentrieren. Ich werde dich nicht weiter stören." Sacht lächelnd, drückte Gianni noch einmal die Hand des jungen Franzosen, ehe er sich abwandte und wieder in das Gästezimmer ging, um dort damit zu beginnen, die beiden Koffer auszupacken.
Henris Sohn sah ihm kurz nach und erst, als Gianni verschwunden war, ging Paul zu der Statue und berührte das so geliebte Gesicht. Er würde jetzt daran weiterarbeiten und zündete sich eine weitere Zigarette an, bevor er zu seinem Werkzeug griff und sich an die Arbeit machte. Gianni war wirklich leise und so vergaß Paul schnell, dass er nicht allein war und arbeitete wie die letzten Wochen zuvor sehr konzentriert.
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